Wir diskriminieren aber wir meinen es doch nicht so – Wie Sprache Realitäten schafft.

Sprachen sind für unsere zwischenmenschlichen Aktionen unerlässlich, auf der ganzen Welt kommunizieren Menschen auf äußerst unterschiedliche Art und Weise. Weltweit existieren ca. 7000 Sprachen, jede von ihnen verlangt unterschiedliche Formulierungen um eine Aussage treffen zu können. In der Sprache Pirahã, die im Amazonas beheimatet ist, gibt es zum Beispiel keine exakten Zahlenwörter, Ich könnte in dieser Sprache also nicht exakt ausdrücken dass ich gerne in die „30. Straße„ möchte, dementsprechend müsste ich anders formulieren. In der Sprache Kuuk Thaayorre, welche in Australien von den Thaayorre gesprochen wird, gibt es keine Wörter wie links und rechts. Relative Raumausdrücke sind hier unbekannt, stattdessen nutzen die Menschen Wörter wie Norden, Süden, Westen oder Osten.

Die Deutschen verstehen ihre Sprache als Sprache der Dichter und Denker, doch in Wahrheit ist sie nur überaus präzise. Sie gibt uns nahezu unbegrenzte Möglichkeiten genau zu formulieren was wir sagen möchten, doch trotzdem nutzen wir diese Möglichkeiten kaum. Was in Anbetracht dessen, dass Sprache Wahrnehmungen und Realitäten formt, umso bedauerlicher ist. Nutzen wir also diskriminierende Sprache, ob unabsichtlich oder absichtlich ist völlig egal, schaffen wir damit Realitäten. Sowohl für die Menschen innerhalb der angesprochenen diskriminierten Gruppe, als auch für die Menschen außerhalb dieser Gruppe. Beispiele hierfür gibt es in letzter Zeit immer häufiger.

Ein „nicht lebenswertes“ Leben?

Die Wahrnehmungen die auf diese Art und Weise geschaffen werden, können das Leben von betroffenen Menschen gravierend beeinflussen, im schlimmsten Fall sind sie gar ein Todesurteil. Als Beispiel können wir die Empfehlung der DIVI ( Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin ) zum Thema Triage während der Corona-Krise betrachten. Um zu ermitteln welchen Menschen in einer absoluten Notsituation geholfen werden soll, und welchen Menschen nicht, wurden Kriterien festgelegt. Hier gibt es u.a. eine „Gebrechlichkeitsskala“, wonach Menschen nach ihrem Erscheinungsbild in Kategorien eingeteilt werden. Obwohl diese Skala erst für Menschen ab dem 65. Lebensjahr gelten sollte, allein über diesen Punkt könnte man schon sehr gut streiten, soll sie hierzulande auch für diejenigen gelten, die auf Assistenz angewiesen sind oder die Gehhilfen und Rollstühle unabhängig von ihrem Alter benutzen. In Großbritannien, wo die Skala ursprünglich entwickelt wurde, führte Sie dazu, dass behinderte Menschen teilweise nicht mehr behandelt wurden. Des Weiteren führt die Empfehlung der DIVI „Komorbiditäten“ mit Beeinträchtigung des „Langzeitüberlebens“ auf, darunter auch: „weit fortgeschrittene generalisierte neurologische oder neuromuskuläre Erkrankungen.“. Am Ende werden diese Formulierungen noch von einem bunten Bildchen zur Veranschaulichung der Skala unterstrichen. Diskriminierender kann eine grafische Darstellung gar nicht mehr sein.

Der Aushang der Gebrechlichkeitsskala.

Der Streit über die Deutungshoheit, ob ein Leben lebenswert ist oder nicht, ist ein Streit der eine grauenhafte Grenze bricht. Wenn der Präsident der DIVI dann noch die Frage stellt, ob es wirklich Sinn ergebe, „Menschen in sehr hohem Alter, die aus eigener Kraft schon lange kaum mehr leben können und schwere chronische Begleiterkrankungen haben, noch zu intubieren und auf einer Intensivstation zu beatmen, dann kann kein Zweifel mehr bestehen, dass wir uns mitten in einem Streit über diese Frage befinden. Doch es ist eine Frage die kein Gesetz, kein medizinisches Fachpersonal, keine Expert*innen für Ethik und kein*e Politiker*in wirklich beantworten kann. Beantworten kann diese Frage nur der jeweils betroffene Mensch. Die jeweilige Entscheidung, egal wie auch immer sie ausfällt, ist zu respektieren.

Der Mensch als gesellschaftliche Belastung.

Jedes Mal, wenn die Versorgung eines Menschen unter Kostenvorbehalt gestellt wird, erscheint der Mensch als Ballastexistenz für die Gesellschaft. Und jedes Mal, wenn das passiert stirbt irgendwo ein Einhorn. Dies passiert in Deutschland – jeden Tag. Es geht dabei zum Glück nicht immer um die oben angesprochene Empfehlung oder um Leben und Tod. In der Regel geht es um Versorgungen mit Hilfsmitteln, um Reparaturen oder die Frage wo Menschen künftig leben sollen. Wir sind also außerordentlich geübt darin Menschen den Eindruck zu vermitteln, dass sie eine Belastung für die Gesellschaft sind. Darüber hinaus vermitteln wir der Gesellschaft das Bild, dass diese Menschen eine Belastung sind.

Solange wir nicht verstehen welche Macht unsere Sprache besitzt und in welchem Maß sie Wahrnehmungen schafft und Realitäten prägt, solange werden Menschen weiterhin diskriminiert und solange werden wir immer von den Minderheiten und der Mehrheit sprechen. Solange wir uns unterteilen in wir und die, meine Leute und der Rest, Ballast oder Bereicherung, wird es immer Kampf statt Frieden geben.

Photo by Micheile Henderson on Unsplash

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