Inge Plangger zieht Bilanz.

Eine einfache Skizze einer Skala, der Verlauf zeigt einen steigenden Kurs.

Zum diesjährigen Protesttag möchte unsere Gastautorin Inge Plangger Bilanz ziehen. Wir freuen uns sehr über ihre Gedanken.

Ich möchte den diesjährigen „Protesttag“ einmal nicht dafür verwenden,Missstände aufzuzeigen (obwohl es wahrlich leider immer noch genug gibt), verschiedenste Barrieren und Ungleichwertigkeiten zu beschreiben oder Forderungen zu formulieren. Stattdessen möchte ich einfach nur Bilanz ziehen, Fragen in den Raum stellen und dazu Ideen weiterspinnen.

Wir befinden uns zur Zeit in einer sehr speziellen Situation mit einer Qualität, die in alle möglichen Richtungen ausfransen kann. Sie ist geprägt von Erschrecken, Angst bis hin zur Panik, von Frustration, existenzieller Sorge, Wut, Widerstand, Solidarität und dem Glauben, dass sich nach dem von der Pandemie geprägten Alltagsleben etwas verändern könnte und zwar hin zu einem besseren Miteinander, sowohl mit der Umwelt, als auch im Menschlichen. Manche befürchten Verluste, nicht wieder gut zu machende Schäden, wirtschaftliches Chaos, andere erkennen schon jetzt positive Auswirkungen auf die Natur und in punkto Entschleunigung und sehen bzw. hoffen auf Chancen im Ausbau menschenwürdigerer Strukturen und Lebensformen.

Welche Position, welchen Raum, welche Bedeutung und welche Möglichkeiten haben wir, als Menschen mit Behinderung in diesem Geschehen und in dessen weiterem Verlauf?

Wo werden wir gesehen und auf welche Art wahrgenommen? Werden wir überhaupt gesehen? Und wie ist unsere eigene Wahrnehmung in Bezug auf uns selbst und die Möglichkeit unserer Mitwirkung? Wo würden wir uns gerne sehen, in welcher Zukunft oder besser Gegenwart, ein Leben nach unseren Vorstellungen führend? Oder werden solche Gedanken völlig absorbiert durch Gefahren, die auf uns warten könnten?

Natürlich stecken mir, als Mensch mit Behinderung, wie vermutlich vielen anderen auch, uralte Ängste in den Knochen. Nicht umsonst habe ich einige Jahre zum Thema „Paradigmenwechsel in der gesellschaftlichen
Wahrnehmung von Menschen mit Behinderung und der Möglichkeit einer freien Lebensgestaltung“ referiert. Wir alle wissen, dass es finstere Zeiten gab, wir alle hoffen, dass sie überwunden sind, fürchten,dass sie wieder auftauchen könnten und versuchen uns auf den „sicheren“ Boden von Konventionen, Gesetze, Intellekt, Offenheit und dem Propagieren von menschlicher Gleichwertigkeit zu retten. Doch wie tragfähig ist dieser Boden? Wie stabil und bedeutend konnten wir uns in dieser Gesellschaft etablieren, wichtige Positionen besetzen, selbstverständlich in den ersten Arbeitsmarkt kommen, das Alltagsbild prägen, eine Kultur entwickeln, der anzugehören stolz macht, cool ist oder andere identitätsstiftende oder -fördernde Faktoren bescheren. Kann es sein, dass sich auf diesem Gebiet immer noch nicht viel getan hat?

Sehen wir uns unsere Rollenbilder an. Ich fürchte, was das anbelangt, decken sich sogar gesellschaftliche Fremdwahrnehmung und Selbstwahrnehmung in so manchen Bereichen.

Wir sind nach wie vor eine sehr unterprivilegierte „Randerscheinung“. Wir werden nach wie vor in erster Linie als hilfsbedürftig wahrgenommen. Das geht in vielen Fällen so weit, dass in Bereichen, die unser Leben betreffen, Entscheidungen völlig ohne uns getroffen werden. Es wird über uns verfügt! In kleinen Alltagssituationen, wie im großen Gefüge. Kaum jemand findet was dabei. Denn angeblich geht es ja immer um unser
Wohl, unseren Schutz. Wir sind Projektionsfiguren. Projektionsfiguren für vielerlei Sülze in den Köpfen anderer.
Wir dürfen leben und unser Leben sogar selbst gestalten, wenn eine Gesellschaft in Wohlstand lebt und sich großzügig gibt.
Sobald es mit irgend etwas eng wird, befindet sehr schnell wieder einmal jemand, man müsse doch abwägen, welches Leben sich dann lohne.

Werden wir dazu nicht einmal befragt? Hält sich denn die Projektion vom Leiden derartig hartnäckig, dass alle
Äußerungen unsererseits im Wind verhallen?
Immer noch wird Behinderung mit Leid assoziiert. Und Leid darf nicht sein! Wir leiden aber nicht! Außer an der Ignoranz von Menschen, die uns nicht für voll nehmen, sich über uns hinwegsetzen, sich als etwas Besseres fühlen, uns Ihre Theorien
in Bezug auf Behinderung überstülpen wollen. Außerdem leiden wir unter Institutionen, die uns keine menschliche Entwicklung zugestehen, Individuation unterbinden, Menschen brrchen und apathisch machen. Nicht zuletzt leiden wir auch unter der Bürokratie, die uns dazu zwingt, oft jahrelang um notwendige und dringend benötigte Hilfsmittel zu kämpfen, mit Sachbearbeitern, die wenig Kenntnis über unsere Lebenssituation haben. Das sind die Dinge, an denen wir uns aufreiben und die sehr viel Kraft
kosten. Wir leben Leben, wie Menschen es tun. Befriedigende und erfüllte Leben. Manchmal auch kleine, enge, begrenzte, mit scheinbar wenig Effekten und Affekten.
Ich möchte meines nicht missen, eintauschen oder irgendwie abgesprochen bekommen, was seine Bedeutung anbelangt.
Warum ich das überhaupt erwähne? Weil dieses Auswahlverfahren, welches sich Triage nennt und medizinische
Entscheidungen beinhaltet, dass Menschen wie mich und viele meiner Freunde im Falle einer Erkrankung, aussortieren würde, in vieler Munde geführt wird und viele von uns beunruhigt.

Ich habe eingangs auch das Hoffen auf die Entfaltungsmöglichkeit anderer Lebensgrundlagen erwähnt. Gerne möchte ich selbstverständlich einfach davon ausgehen, dassganz im
Sinne von Diversität und dem Menschsein, welches dann an erster Stelle steht, wir unseren Platz einnehmen können.

Die Rolle als Bittsteller, als Ballast, als jemand, der sich beweisen
und rechtfertigen muss, der alles recht machen will, weil er/sie
scheinbar rechtlos ist, als zu bedauernde, um Arbeit, Bezahlung,
Grundrechte Kämpfende endlich ablegen zu können, wie eine viel zu alte Hülle – das wünsche ich!
Wir haben Kraft, wir haben Ausdauer, wir haben Weisheit und
Menschenkenntnis, Wünsche, Hoffnungen und viele Visionen.
Wir haben so einiges nachzuholen und vieles einzubringen.
Nutzen wir die Zeit

Image by Gerd Altmann from Pixabay

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